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K*



«Der Konstruktivismus beschreibt die Wahrnehmung der Menschen als aktiven Konstruktionsprozess. Sie nehmen also nicht die objektive Wirklichkeit wahr, sondern erschaffen sich aus dieser ihre eigene Realität. (…) Das konstruktivistische Paradigma kognitiver Selbstreferentialität postuliert, dass Kognition keinen direkten Zugang zur Realität hat. Seinen Nutzen für die Reflexion von Interaktionsverhältnissen erweist dieses Paradigma zunächst in der Verdeutlichung der Grenzen menschlicher Erkenntnis und zwischenmenschlicher Kommunikations- und Einflussmöglichkeiten.» (Kraus, Björn, 2002. Konstruktivismus – Kommunikation – Soziale Arbeit. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme Verlag.)


Sie steht da, oder tut es auch nicht, vielleicht wird sie auch weggeschwemmt durch die Fasslungslosigkeit über das eigene Unvermögen, das wirklich Wichtige zu erfassen. Während sie mit den Augen dem grünen Laserlicht an seinen Projektionsort zum höchsten Punkt der Decke folgt, versucht sie die Höhendimensionen zu erfassen. Sie blickt hoch und die Höhe wird endlos, grenzenlos denn die Grenzen von Raum und Zeit sind relativ, waren schon immer nur ein Mittel zum Zweck. Sie ist umzingelt von einer Reihe schwarzer, ledergepolsterter Podeste. Diese Wachsen in die determiniert endlose Höhe, wie die schwarzen Schatten eines Tannenwaldes im Vollmondlicht. Sie steht da im Zentrum der Tribüne am Abgrund der Zeit, um sie rum versammeln sich eine Reihe an bekannten Gesichtern. Gewisse stille Botschaften werden ihr anhand starrer Mimiken und stummen Schreien mitgegeben und bilden eine dicke zähe Masse aus grauem Rauch, der dazu führt, dass nach und nach ihre Gliedmassen verschwinden. Zuerst ihre Zehen, dann die ganzen Füsse, der Daumen und dann auch schon der Zeigefinder, bis auch beide Hände und dann auch die Arme weg sind.


Eine Frau sitzt im Zug, lässt ihren leeren Blick über die atemberaubende Herbstlandschaft streifen. Dieser leere Blick folgt einer gewissen anders dimensionierten Überfülltheit. Sie blickt in den Himmel und sieht grosse und kleine Wolken, manche sind noch weiss, andere grau, gewisse sind orangefarben und andere sind ganz klar Hybride – wenn schon nur für einen kurzen Augenblick. Blinzeln, und schon ist alles wieder anders. Sie sitzt im Garten mit ihrer Grossmutter, über den beiden die saftig grüne Pergola aus Weinreben, geziert mit kleiner noch unreifen kleinen Traube, die doch hoffentlich bald mehr reifen würden, so dass sie an der Pergola hochklettern kann und diese einzeln abpflücken, im Munde zergehen lassen und die Traubenkerne rebellisch mit einem Mal runterschlucken könne. Ihre Eltern sitzen beide vor ihr, schlürfen ihren Kaffee und lehnen sich dann genüsslich im Stuhl zurück. Es herrscht ein eifriger Betrieb, die Luft riecht nach frisch gebackenem Baguette und kaltem Zigarettenrauch. Ihr Teller wird geziert von einem noch dampfenden Crêpe mit Apfelmusfüllung, den sie zögerlich in zwölf gleichgrosse Stücke schneidet. Sie hört das Kratzen der silbernen Messerspitze auf dem mit Goldrand verzierten Keramikteller lauter als all die anderen die Morgenkulisee zierenden Geräusche. Schon wieder stehen sie in einer Gruppe vereint eingepfercht in der Ecke, vor den Blicken der Lehrer versteckt und versuchen gleich genüsslich sowie eilig die letzten Züge der Zigarette zu rauchen, um vor dem 2. Klingeln wieder unschuldig im Klassenzimmer Platz zu nehmen. Zusammen mit ihrer Freundin liegt sie im Bett, schon wieder so eine Nacht ohne Anfang und Ende verbracht, ein Exit und ein Scherbenhaufen. Sie liegen da zusammen und tun nichts ausser das Fallen der Blätter auf den Pflasterstein im Schillerkiez zu beobachten, die Blätter niemals prächtiger gewesen. Und zuletzt läuft sie mit ihm über einen steilen Hang hoch zur Burg, von welcher man mit Panoramablick die Berge, ja sogar die Alpen ausmachen kann. Sie sind ganz alleine da, die Herbstdämmerung setzt ein und es ist ruhig, es ist alles so unschuldig und anstatt Kälte steckt ihnen die Wucht von Neubeginnen in den Knochen. Sein Gesicht befindet sich direkt vor ihr, gerade an der Grenze ihrer Akkomodationsfähigkeit, so dass sie sich gewissentlich jeden Zentimeter einprägen kann. Dieses Bild wird zum Bildschirmschoner in Zeiten, in welchen das Leben auf Stand-By läuft.


Die Frau im Zug blinzelt erneut und schon liegt der Himmel verändert vor. Die Wolken verschieben sich in alle Himmelsrichtungen ineinander, gegeneinander und die Farben vermischen sich zu einem pittoresken Farbverlauf. Alles ist gerade verschoben, der Verschiebung von Lebensrealität folgt die Verschiebung von Wahrnehmung derjenigen. Das Leben in der Box, einer Schachtel, die so vielfach in sich verschachtelt, all die inneren Stockwerke ein selbst errichtetes Kartenhaus und es hat nicht aufgehört, weniger zu werden. Ihre Arme tauchen wieder auf aus dem Nebeldickicht, sie blickt hoch und bestimmt nun selbst in welcher Höhe sich die Decke befindet. Wieder in den gleichen vier Wänden, immer dieselben vier Wände und trotzdem nie dasselbe. In einer Sekunde kann sie endlich begreifen, meint ihre Lebensfragen begreifen zu können, eben weil sie diese nun greifen kann mit den ihr neu gewachsenen lang ausgestreckten Armen. Sie greift damit zur Decke und zieht diese einzeln runter zu sich auf den Dancefloor. Durch alleinige Verknüpfungen entstehen die Antworten von selbst, alles macht nun endlich Sinn, denn die letztliche Sinnhaftigkeit ist das Faktum, dass alles auch noch Sinn machen wird, wenn sie sich denn nun ganz aufgelöst hätte. Aufgelöst, absolute Sinnlosigkeit, wenn im Zustand der Dekonstruktion begriffen wird, wie fragil die konstruierten Ebenen sind und ihre Konstruktivität schon lange verloren haben. Auch wenn die Schachtel im entfalteten Zustand den gesamten Raum mit all seinen Ecken und Windungen auszufüllen vermag, lässt sie sich tatsächlich ganz einfach wie ein Origami zusammenfalten und in ihre linke Hosentasche packen.


Sie ist die Frau im Zug, die mit leerem Blick aus dem Fenster schaut. Die Frau, die die letzten die herbstlichen Baumkronen küssenden Sonnenstrahlen begutachtet. Die Frau im Zug, die jedes Leben haben könnte, es würde sich nicht weniger fremd, nicht mehr vertraut anfühlen als das eigene. Beim Verlassen des nach Berlin zurückfahrenden Zuges bleibt ein kleines sorgfältig zusammengefaltetes graues Kartonschächtelein auf dem schmuddligen Zugsitz zurück.

 
 
 

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