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Rave

Aktualisiert: 24. Juli 2021



«Alle Selbstverwirklichung scheitert, wenn das Selbst alleine verwirklicht wird. Andere bieten Gegenhalt, zu dem ich mich ins Verhältnis setzen kann, und je spürbarer der Gegenhalt, desto stärker spüre ich mich selbst.» (Wilhelm Schmid: Die Liebe atmen lassen. S. 79)

Techno: mein Gegenhalt. Club: dort wo man in Kenntnis der Seelen vergnüglich glücklich sein kann. Rave: wenn nur die übergefühlte Liebe zum Leben zählt.


Ich hatte mal einen Partner, welcher mein stetes Bedürfnis zum Raven als Flucht bezeichnete; Eskapismus. Was ist 'Eskapismus' überhaupt?

«Zerstreuung suchendes Verhalten, Rückzug ins Private oder in die Natur oder das Imaginieren einer anderen Welt mit dem Zweck, die Beschäftigung mit der (unangenehmen) Realität zu vermeiden.»


Den Eskapismus als eines der überwiegend dem Ravebedürfnis zugrundeliegenden Motive anzuerkennen, dem kann ich mich gewiss anschliessen. Jedoch würde ich gerne der Frage nach der Verwerflichkeit dieser Motivation nachgehen. Eine Flucht wovoe? Vor dem Jetzt? Was ist 'Jetzt'? Wieso ist es falsch, vor der Gegenwart fliehen zu wollen? Wo wir uns doch beim Tanzen mehr im JETZT befinden als Anderswo?


"Komm wir jagen die Monotonie... La La La" So Weit Wie Noch Nie, Jürgen Paape (2002)

Der Club, unsere Hintertür aus dem normierten System unserer Gesellschaft. Der Club als Übergangsort von Immanenz zu Transzendenz. Der Club als mein 3rd Space.


Transzendenz kommt aus dem Lateinischen transcendere was «hinüberschreiten, übertreten» bedeutet und auch mit dem Bewusstsein übersteigenden Erfahrungen verbunden wird. Um das Jetzt ertragen zu können, brauchen wir Transzendenz. Immer wieder kommen wir zurück zur Transzendenz, welche elementar für unsere Existenz und unser Sein ist. Sowie das Gefühl und die Funktion von Transzendenz universal scheinen, so sind die Aktivitäten und Momente zahllos, welche das Gefühl von Transzendenz vermitteln. Ein Moment des Aussersich-Gehens, Aussersich-Stehens (Tante Keta lässt grüssen), des Erfassens der Lebensrealität in ihrer Fülle unter gleichzeitiger Wahrung von Distanz. Und genau diese Distanz macht es überhaupt erst möglich, das Geschenk Leben und die eigene Biographie in ihrer Stringenz wirklich erfassen zu können. Seien es nun transzendente Momente mit Drogen im Rausch, beim Reisen, in Gesprächen mit Fremden, in der Liebe und der Freundschaft, oder eben Transzendenz beim Rave.


Was ist daran verwerflich, für einen Abend postulieren zu wollen, wer man ist? Die eigene Existenz zu feiern? Die eigene Existenz in ihrer rohsten Erscheinungsform, in keinen gesellschaftlich normierten Kontext gebettet, losgelöst vom Habitus. Wie wäre es, anstelle von Flucht von einer Regression zu sprechen? Regredient dahin, wo man wirklich ist, zu dem, was man stets geblieben ist und doch vergessen hat. Kollektivitätsgefühl, gestiftet durch die Liebe zur Musik, zum Moment, zur Ekstase, zum Gefühl, zum Leben und der Vergänglichkeit. Denn in jedem Moment des intensiven Lebens wird einem dessen Polarität und insofern dessen Vergänglichkeit ins Gesicht geschmettert. Und in keinem Moment ist diese abgründige Erkenntnis besser mit dem Leben vereinbar als genau jetzt. Alltägliche Ambivalenzen sind aufgehoben in einer allumfassenden Akzeptanz. Denn es gilt, einen Moment für das Leben zu leben. Ich sehe da nichts Verwerfliches daran.


«Der Boden erwacht durch das Stampfen der Füsse zum Leben. (…) eine ungezähmte Menge verliert sich in der Illusion des Liedes. Ich bin gefangen, gefangen im Traum des Liedes, der sich vor meinen geschlossenen Augen erstreckt. Und plötzlich schlägt mich der Bass ins Gesicht und ich sehe Freiheit.» (Liebesbrief an Bass, Rosa Feodora)

Schlendre durch die Gegend, hab keinen Plan. Der Weg ist das Ziel – ziellos. Meine Füsse verwachsen mit dem Boden, häng am Gitter und keiner kriegt mich weg. Bam Bam, der Bass hämmert und ich will tiefer, will mehr, will mich greifen und vollständig beherrschen lassen. Ich bin eine Schablone, die durch die Völle des Gefühls ausgefüllt wird. Mein Herz platzt. Bam Bam, tiefer tiefer, und endlich vermag der Bass diese fortwährend schreiende Instanz in mir zum Schweigen zu bringen. Die Füsse verbunden über den Boden mit dem Beat, du weisst - hier gehörst du hin. Du weisst, für diesen Moment hat sich alles gelohnt, es muss einfach, sonst würde das ganze Konstrukt namens Alltag ja nicht aufgehen. Momente werden zu Sekunden, zu greifbaren Abbildern exzessiven Lebens. Und du gibts mehr noch mehr, weil du weisst, du musst mal wieder leben, vorleben für all die Scheisse, die du sonst immer erträgst. Ehrliche Naivität ersetzt den optimistischen Nihilismus, Peter für immer im Herzen.


Unter dem flackernden Strobo, welches uns alle in ein Abbild eines hedonistischen Moments zerstückelt, verflüchtigt sich die Zerstreuung und beim Aussetzen des Herzschlags bis der Beat droppt, sind wir alle eins. Ein einziges Organ, pulsierend, durchblutet vom Beat, der Bass gibt den Schritt an. Die Paradoxität der Clubanonymität, wenn der Fremde dein bester Freund wird, weil ihr auf das Wesentliche reduziert seid. Jenseits von Sein und Schein oder doch nur alles kurzwährende Inszenierung? Schwierig zu sagen, aber im Endeffekt egal.


Deine Augen funkeln mich an und in unserem Blick liegt so viel Wahrheit. Die ganze Wahrheit, die eine Wahrheit, die Wahrheit, die eigentlich nicht existieren darf. Die letztlich und auch in diesem Text unausgesprochene Wahrheit, denn für gewisse Dinge wird es nie die passenden Worte geben - das krasseste Gefühl kennt keine Beschreibung. "Jugend, krasser Ort. Da bin ich, da werd' ich gewesen sein" (Airen: I Am Airenman)




 
 
 

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