Berlin, Berlin
- Mona Dean
- 21. Okt. 2021
- 3 Min. Lesezeit
«Die Forderung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf. Die Kritik hat die imaginären Blumen an der Kette zerpflückt, nicht damit der Mensch die phantasielose, trostlose Kette trage, sondern damit er die Kette abwerfe und die lebendige Blume breche.» Karl Marx
Ich laufe durch die Strassen und verliere mich in deren Weite und Offenheit. Ist es nicht das, wonach ich gesucht habe? Anonymität, die mich in Vertrautheit hüllt. Untertauchen, untergehen, mich treiben lassen im nimmerendenden Sog dieser Weltstadt. Berlin, du Nimmerland. Peter, wo bist du?
An allen Ecken zeichnet sich Geschichte ab, historische Geschichte aber auch kleine Geschichten des Alltags – es lebt, alles lebt. Dieses Lebendige, welches die in meinem Innern herrschende Totenstille übertrumpfen soll. Deshalb bin ich doch hier, das muss ich mir doch endlich eingestehen.
Berlin, du regst meinen Appetit an. Du bist ein Buffet - von allem bietest du ein wenig, und doch wird es niemals reichen, um meinen Hunger zu stillen.
Berlin, du bist meine Patchworkdecke. Du zeigst mir, dass auch unvollständige Dinge funktionieren, dass «Kaputt» nur eine Frage der Perspektive ist. Dass inkomplette Dinge asystematisch funktionieren, partiell, begrenzt, beautiful chaos. Meine Patchoworkdecke, die mir dann am Ende des Tages doch nicht genügend Wärme spendet.
In deinem Schoss findet jeder seinen Platz, weil es für Jeden von allem ein wenig gibt, aber von Nichts gibt es alles. Ja, du bist alles und nichts, unfassbar, für mich niemals greifbar. Du als Stadt der Utopien und Träume, wo jeder für einen Moment Ruhe in der Rastlosigkeit findet, vermeintlich in der Illusion ruhend, seinen Ort gefunden zu haben.
Berlin, Nachtleben, Clubs. Wobei ‘Nachtleben’ unzutreffend ist, weil Dichotomien aufgehoben sind, die Grenzen längst verschmolzen sind. Und hier steh ich nun, mittendrin und weiss nicht mehr, wie mir geschieht. Ich als Konstrukt meiner Ambivalenzen. Wie ein Hammer trifft es mich, dass ich doch genau hierhin gehör, hier vor den Bass, side to side, nicht anderes ergibt Sinn als genau das jetzt hier, dieses Gefühl in diesem Moment. Hier sind wir alle keine Systemanomalie mehr; asystematisch lassen wird uns blind vom Takt der Musik leiten. Ich will doch eigentlich nicht viel vom Leben, möchte doch eigentlich nur ein wenig sein. Strolle herum auf der Suche nach dem Polarstern des Exzesses, wie schon so manch einer zuvor.
Und ich sehe sie, die Jugend, unsere Zukunft. Viel zu früh erwachsen geworden in einer Welt der Unsicherheit. Wild, masslos und gleichzeitig derart abgeklärt, dass es mir kalt den Rücken runterläuft. Unwissheit schützt nicht, ja existiert nicht mehr, aufwiedersehen gnädige Naivität. Sie haben zu viel gesehen, zu viel gehört und gespürt. Selbst wenn sie sich dessen hätten verschliessen wollten. Und nun umgeben sie mich, tanzen mit abgewandtem Blick, um nicht der tief empfundenen Perspektivlosigkeit ins Auge blicken zu müssen. Und irgendwann werfen sie alle ihre Ketten ab, Blumen wachsen aus ihren Schädeln, es wird hell und es wird wieder dunkel.
Ich hab immer gesagt, dass du keine Lücke füllen sollst. Selbstgenügsamkeit. Und doch ist deine Nähe eine Reise an altvertraute noch nie besuchte Orte der Wärme und Geborgenheit, deine Nähe meine Rettung.
Berlin, du lässt mich in der überholten Illusion, dass Liebe alles heilen kann und für eine Nacht verbleibe ich gerne naiv in dieser Illusion. In der Illusion, dass wir, er und ich, vielleicht, ja nur vielleicht doch am Ende der Nacht zusammen nach Hause gehen werden. In der Gewissheit, dass Zuhause nie mehr das Gleiche ohne ihn sein wird. Berlin, weil jede dunkle Nacht ein helles Ende hat, deshalb müssen auch er und ich uns irgendwann trennen.
"Aime-moi jusqu'à ce que les roses fanent
Que nos âmes sombrent dans les limbes profondes
Et la nuit, quand tout est sombre, je te regarde danser (...).
Aime-moi dans la neige, aime-moi sous le soleil
Aime-moi la peau beige dans les fleurs de vermeil." (Videoclub, Aimer moi / Roi)
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