Dating-Apps in der Postmoderne
- Mona Dean
- 19. Apr. 2021
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 25. Apr. 2021
„die Liebe ‚verstehen‘ kann man später, die Liebe ‚verstehen‘ grenzt schon an praktische Vernunft, die Liebe ‚verstehen‘ kann warten, bis das Herz abgekühlt ist. Ein Verliebter will in seiner Verzückung die Liebe nicht ‚verstehen‘, sondern erleben, will die neu gewonnene Intensität und Klarsicht spüren, die Beschleunigung des Lebens und die absolut gerechtfertigte Selbstbezogenheit, den wollüstigen Übermut, das fröhliche Schwadronieren, die ruhige Ernsthaftigkeit, das heiße Verlangen, die Gewissheit, die Einfachheit, die Komplexität, die Wahrheit, die Wahrheit, die Wahrheit der Liebe.“ (Barnes: Die einzige Geschichte. S. 110)
Ich halte generell nicht viel von Dating-Apps. Es geht mir weder darum, ein allgemeines Urteil über diese zu postulieren noch Personen oder daraus entstandene Beziehung zu verurteilen. Postulieren, hier nicht den Moralapostel zu spielen; sondern vielmehr persönliche Inkompetenz im Umgange mit diesen Apps zu kontastieren und infolgedessen den Ursprung dieser Inkompetenz zu ergründen. Es gibt gewisse Persönlichkeitsstrukturen, welche sich als kompatibler mit den hier angesprochenen Apps erweisen als andere. Zielstrebigkeit und Entschlossenheit darüber, was man zu finden sich erhofft, werden von Nutzen sein. Klare Vorstellungen, konkrete Erwartungen. Offen für Neues? Bullshit. Offen für Neues als Metapher für das Paradigma unseres Zeitalters, sich nicht entscheiden zu können. Unbegrenzte Optionen, unbegrenzte Swipes, unermässliche Überforderung.
Und wie geht’s weiter, wenns denn nun gematched hat?
Im Rahmen von Dating-Apps, wo das Subjekt katalogisiert wird, trifft man auf den üblichen Versuch der Individuen, sich durch Profilierung der durch derartige Apps geschaffenen Konformität zu entziehen. Gegenbewegung zur Flucht ins Konforme im Sinne einer konformen aktuellen Gesellschaftsbewegung.
„Man kann die Angst, sich auch nur wenige Schritte abseits der Herde zu befinden und anders zu sein, nur verstehen, wenn man erkennt, wie tief das Bedürfnis ist, nicht isoliert zu sein.
Manchmal rationalisiert (rechtfertigt) man die Furcht vor der Nicht-Konformität als Angst vor den praktischen Gefahren, die dem Nonkonformisten (Unangepassten) drohen könnten. Tatsächlich aber möchten die Leute in viel stärkerem Mass mit den anderen konform gehen, als sie –wenigstens in den westlichen Demokratien –dazu gezwungen werden. Die meisten Menschen sind sich ihres Bedürfnisses nach Konformität nicht einmal bewusst. Sie leben in der Illusion, sie folgten nur ihren Ideen und Neigungen, sie seien Individualisten, sie seien aufgrund eigenen Denkens zu ihren Meinungen gelangt und es sei reiner Zufall, dass sie in ihren Ideen mit der Majorität übereinstimmen.
Im Konsensus aller sehen sie den Beweis für die Richtigkeit „ihrer“ Ideen. Den kleinen Rest eines Bedürfnisses nach Individualität, der ihnen geblieben ist, befriedigen sie, indem sie sich in Kleinigkeiten von anderen zu unterscheiden suchen; die Anfangsbuchstaben ihres Namens auf dem Handkoffer oder dem Pullover, das Namensschildchen des Schalterbeamten oder die Zugehörigkeit zu verschiedenen Parteien oder Studentenverbindungen: Solche Dinge dienen dazu, individuelle Unterschiede zu betonen. In dem Werbeslogan, dass etwas „anders ist als…“, kommt dieses Bedürfnis, sich von anderen zu unterscheiden, zum Ausdruck.
In Wirklichkeit gibt es kaum noch Unterschiede.“ (Erich Fromm - Furcht vor der Freiheit)
Durch das aktive Kennenlernen, Fragen von spezifischen Fragen gibt man dem Gegenüber automatisch die Möglichkeit, sich passende Antworten auszudenken. Sich so darzustellen, wie es situativ am Besten in das aktuell angestrebte Selbstbild passt. Manche nennen’s «Sich-selbst-Neuerfinden» durch die Interaktion mit dem neuen Unbekannten. Ich nenne es eine (zumindest partielle) Illusion. Es geht darum, möglichst unkonventionelle Antworten zu generieren, um die eigene Persönlichkeit in Unkonventionalität einzubetten. Darum, durch das «Wagnis» der Unkonventionalität den Anspruch auf Authentizität des dargestellten Selbstbildes zu verdeutlichen. Schauspiel, Oberflächlichkeit – I n s z e n i e r u n g?[1] It’s a funny game, I promise!
Swipen, Matchen wird zum Spiel, zur Selbstaufwertung ohne Mehrgehalt. Was bleibt, ist Leere. Kann mir keiner erzählen, niemals diesem Gefühl der Ohnmacht, der unbändigen Einsamkeit als Restemotion nach einem Abend (erfolgreichen oder -losen) Swipens ausgesetzt gewesen zu sein. Die Entfremdung des Menschen in der posttraditionllen Moderne kombiniert mit unbegrenzten Möglichkeiten. Wir können alles sein, jeden wollen und alles ablehnen. Und in diesem Zuge die grundsätzliche Verankerung des eigenes Subjekts - des eigenen Ichs als signifkanten Anderen - vergessen. Dies führt letztlich dazu, dass derartige Emotionen der Haltlosigkeit, der Begrenztheit der menschlichen Existenz und des Ichs – nicht anders empfangen werden können als mit Leere und dem dringlichen Gefühl, diese füllen zu müssen.
Was aber stellt ein Gegenpendant zur Inszenierung dar? Was ist wertvoll?
Menschen, die sich nicht durch aktives Profilieren abheben. Die sich durch ihre Diskretion zu etwas Wertvollem, Delikatem und Unikatem abheben. Die nicht direkt alles preisgeben, sondern ihre Schätze nach und nach offenbaren.
Der Sonderfall der Sonderfälle: Pseudotechnische Vortäuschung von Unkonventionalität, weil der eigentliche Tiefgang so weit reicht, dass er letztendlich nur auf Verwirrung stossen würde. Unmögliche vollständige Selbstoffenbarung, bis zum letzten Zeitpunkt, an welchem sie möglich werden wird. Bis weniger endlich mehr ist. In dem Wissen, dass wenn dieser Moment erreicht wurde, auch dieses Kapitel geschlossen werden kann. Denn wie Barnes sagt, gibt es ja nur eine einzige wahre Geschichte.
Ich schau dich an, dein Blick sagt so viel. Vielmehr, als ich je aussprechen könnte und auch du kannst es nicht. Du hoffst auf Erkenntnis, welche über verbale Kommunikation hinausreicht. «Reicht», «Ausreichen». Wir haben beide immer gewusst, dass es nicht genug ist. Genauso wie ich gewusst habe, dass du alles weisst und du wusstest, dass ich weiss. Symbiose? Trotzdem das Wagnis nicht eingegangen, einen Schritt tiefer zu gehen. Aus Angst vor der eigenen Unergründlichkeit, aus Angst in den sprudelnden Sog der eigenen Abgründe gezogen zu werden und der Fähigkeit zur Offenbarung beraubt zu werden. Aus Angst, die Unmöglichkeit der letzten Erkenntnis und der Wiederherstellung einer profund symbiontischen Lebensweise zu erfahren. Diese Angst wird erst dann redundant, wenn wir uns eingestehen, dass nur unsere Selbsterkenntnis zählt. Deine Konturen verschmelzen, laufen an dir herunter, sammeln sich in einer wässrigen Pfütze, die sich vor deinen Füssen sammelt. Dein Ebenbild gespiegelt in der Pfütze, unscharf verwaschen und trotzdem erkennbar. Mehr brauchen wir nicht zu sehen, haben wir angenommen. Dies zu ändern, nun zu spät.
[1] Wobei sich hier die Frage stellt, inwiefern wir generell in unserem alltäglichen Leben sozialen Rollen folgen und wo die Trennlinie zwischen Ich-Ich und Rolle liegt. Eine ontologische Grundfrage, welcher im Rahmen dieser Erläuterung nicht nachgegangen werden kann.
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