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Die vergessene Salutogenese


10.12.2020

Wenn man durch die Stadt spaziert, schwebt dieses Jahr ein etwas anderer Weihnachtsgeist über den Strassen. Die übliche Weihnachtshektik wird entschleunigt durch formelle

Abstandsregeln. Der Gang in die Stadt, «noch schnell ein Geschenk finden» wird plötzlich zur Hürde und man überlegt es sich zweimal. Trotz kalten Temperaturen sieht man die Menschen am Rhein promenieren, um einem minimen Anteil ihrer sozialen Bedürfnisse nachzukommen. Der Augenkontakt als zentrales Sozialisierungsinstrument, der Augenkontakt als intimer Moment zwischen zwei Menschen, der Augenkontakt als stilles Einverständnis der Solidarität, der Resignation vor dem Zeitgeist. Ein Zeitgeist, welcher dieses Jahr sogar den Weihnachtsgeist verdrängt hat.


In der Medizin wird der Begriff der «Pathogenese» demjenigen der «Salutogenese» gegenübergestellt. Unter der Pathogenese versteht man die Entstehung und Entwicklung einer Krankheit, wohingegen man unter der Salutogenese die Eruierung gesundheitsfördender Ressourcen versteht, welche der Gesellschaft auf struktureller Ebene inhärent sind. Das Ziel der Pathogenese ist letztendlich nach Etablierung krankheitsmachender Faktoren deren Antagonisierung – meist via Pharmaka. Bei der Salutogenese geht es darum, im Sinne einer Prävention anzusetzen, die Bevölkerung aufzuklären und Aspekte der Selbstedukation und Eigenverantwortung mehr ins Zentrum zu rücken. Pathogenese macht Geld, Selbstedukation nicht. Pathogenese und Pharmazie sind "the quick fix", Selbstedukation, Erarbeiten von Wissen und das Kennenlernen des eigenen Körpers sind langwierige, aufwändige Prozesse.


Wie schon Fromm in seinen Werken vor 50 Jahren analysierte (Erich Fromm - Haben oder Sein), hat unsere Gesellschaft sich zunehmend an einen Punkt entwickelt, an welchem Normen und Tugenden wie Geduld und Bescheidenheit keinen relevanten Wert mehr haben. Ihre Statusmacht wurde ersetzt durch materielle Statussymbole, durch Akkumulation von Kapital, durch «Haben». Um diese Ideale zu realisieren, gilt es in erster Linie zu leisten und zu funktionieren. Alles andere wäre nicht systemkonform. Krankheit ist nicht systemkonform. Weil Mensch dann nicht mehr funktioniert. Krankheit bedeutet Verlust, in der Medizinökonomie auch «Gesundheitskosten» genannt. Hand in Hand kommen die Gesundheitskosten mit den «Krankheitskosten», also Kosten welche durch die direkte Behandlung einer Krankheit anfallen. Es handelt sich hierbei um ein komplex interagierendes Netzwerk zwischen Faktoren der Medizin und der Ökonomie. Dies sind alles keine neuen Erkenntnisse, nur kristallisieren sie sich in diesen Zeiten hervor und nehmen neue Dimensionen an.


Politiker in der Schweiz stehen unter dem internationalen sowie gesundheitssystembedingten Druck, Massnahmen zu verschärfen. Das Verhängen von sinnlosen, nicht evidenz-basierten Massnahmen soll ein Zeichen setzen. Ein Zeichen dafür, dass wir die Situation ernst nehmen und scheinbar etwas tun. So oder so scheint es die letzten Wochen, die Politik sei mehr oder minder verzweifelt bemüht, einen gewissen Schein zu wahren. Dies hat nun sogar den Punkt erreicht, dass der eidgenössische Zusammenhalt auf föderalistischer Ebene ins Wanken gerät. Das Vertrauen der Kantone in den Bund steht auf der Kippe, politische Transparenz und eine bessere Kommunikation wären erwünscht. So geht langsam wichtiges Vertrauen auf Seiten der Bevölkerung verloren. Vertrauen, welches den Grundstein für die intrinsische Motivation zur Aufrechterhaltung der Massnahmen bildet. Systemvertrauen.


Auch auf psychologischer Ebene stellt die Situation eine nie dagewesene dar. Die Menschen werden langsam wütend, weil das Ausmass an Disziplin nicht mehr in einem nachvollziehbaren Verhältnis steht. Jedoch erfährt die Gesellschaft eine derartige Polarisierung und Spaltung und wir haben es immer noch mit einem unsichtbaren Feind zu tun, weshalb uns das Ventil fehlt und Skepsis mittlerweile auch schon als «non-corono-konform» gilt. Es ist eine gegen innen gerichtete Wut und eine Polarisierung, welche die allgegenwärtige Vereinsamung weiter vorantreibt. So nützt es auch nichts, die Massnahmen für die Gastrobetriebe zu verschärfen (obwohl diese so harte Arbeit in die Erstellung angemessener Schutzkonzepte gesteckt haben), wenn die Leute sich dann doch im Privaten treffen und alle «Regel» über Bord werfen. Die Politiker zielen darauf, ab so scheint es, ein absolutistisches Klima herzustellen, welches Stimmen von Skeptiker im Keim ersticken soll. Skeptiker im Sinne von Menschen, welche aufgrund ihres natürlichen Menschenverstands und ihrem Transzendenzvermögen die politischen Entscheide und Entwicklungen instinktiv in Frage stellen. Skeptiker, die mit einem Wimpernschlag ins Lager der «Corona-Leugner» abgetan werden. Angst wird geschürt, um zu kaschieren, dass Massnahmen verhängt werden, die in keinem Verhältnis mehr stehen zu dem eigentlichen Geschehen.

Die Zeit ist so dynamisch, dass Improvisation von Nöten ist, dies steht ausser Frage. Jedoch bedarf es bei zunehmender Abweichung von Gewohntem der Kommunikation und enormen Transparenz. Diese fehlt. Sowie auch Transparenz auf wissenschaftlicher Seite und Einsicht bezüglich der eigenen Unwissheit fehlt.


Ich will an dieser Stelle weder Corona leugnen, noch dessen fatale Verläufe. Vielmehr möchte ich Fragen äussern.

Wo ist unsere Regierung den gesamten Sommer über gewesen? Wo ist die Aufschulung von diplomiertem Pflegepersonal zu IPS-Personal? Wo ist die Gehalterhöhung der Pflege? Der Ausbau von Intensivstationen? Und zwar nicht nur jetzt in Zeiten von Corona, sondern generell. Wieso kriegen Oberärzte einen Lohnzuschlag für das Mehr an Strom, welches durch das Homeoffice entstand? Wieso gedenken wir nur den Todesopfern und nicht den Helfern, den Menschen an der Front, welche täglich enorm belastenden Situationen ausgesetzt ist? Wieso gedenken wir nur jetzt am Ende dieses Jahres in offiziellem Rahmen allen Todesopfern, wieso nicht jedes Jahr? Wieso überhaupt?

Und hier kommt die Salutogenese zum Zuge. Es wäre zentral und so wichtig, eine gesellschaftsweite Vitamin D Supplementation anzusetzen, welche kosteneffektiv und einfach erfolgt. Weiter ist es wichtig, Aspekte wie Ernährung, Bewegung, Rauch- und Alkoholprävention weiter zu fördern. Vielmehr als zuvor. Nicht per Zufall trifft es Menschen am härtesten, welche genau diesen Dingen im Leben keine grosse Bedeutung geschenkt haben. Hybris. Die häufigste Todesursache bleibt die KHK[1], etwa 76.000 Menschen sterben jährlich an einer koronaren Herzkrankheit (KHK). Die zentralen Risikofaktoren für die Entwicklung einer KHK sind – guess what – neben familiärer Veranlagung der Lebensstil. Dazu gehören Rauchen, einseitige Ernährung, Bewegungsmangel, Übergewicht, erhöhte Blutfettwerte, Diabetes, Bluthochdruck und Stress.[2] Keine der politischen Massnahmen zielt auf diese Ebene ab, obwohl es JETZT an der Zeit wäre, genau diese Punkte aufzugreifen. Aber dass auch hier die Politik wieder komplett am Ziel vorbeischiesst, zeigt sich in der Schliessung der Fitnessstudios und gleichzeitig überfüllten Einkaufsstrassen in der Innenstadt. Fitnessstudios, welche nachweislich das Immunsystem stärken und sich den Stellenwert in der Behandlung und Prävention von Depressionen mit SSRI und MAO-Hemmern teilt. Viel wichtiger scheint es, dass wir uns irgendwelche sinnlosen Last-Minute-Weihnachtsgeschenke kaufen können und den Materialismus bis zum Untergang zelebrieren. Wortwörtlich.

Zum Schluss möchte ich noch einen Fokus auf die psychische Gesundheit der Gesellschaft werfen. Diese hat sich im letzten Jahr rasant verschlechtert, v.a. auch in jüngeren Altersgruppen, welche Perspektive und teilweise Existenzen verloren haben. Ich möchte mir das Januarloch (aka. beliebteste Zeit für Suizidbegehung) dieses Jahr gar nicht vorstellen, wenn schon jetzt psychiatrische Anstalten am Anschlag sind.[3] Dass die Massnahmen auch diesen Aspekt verkennen, muss an dieser Stelle nicht eigentlich nicht mehr erwähnt werden.


Letztendlich müssen wir uns vor Augen halten, dass der Mensch nicht unsterblich ist und so hoffe ich, ist es auch die menschliche Hybris nicht. Eine Hybris, welche sich schon allein wieder in der Massenschlachtung von Tieren widerspiegelt, welche in keinem Verhältnis zu deren tatsächlichem Gefahrenpotential steht. Der Mensch, die Politik versucht verzweifelt an verschiedenen Ecken systemkonform Symptome zu lindern, deren Ursache das System selbst ist. Wenn man tiefer gehen will, kann man auf die Tabuisierung des Todes eingehen. Wir sind eine Gesellschaft, die das sterben verlernt hat und treiben uns und noch viel wichtiger unseren Planeten damit in den Ruin. Die Politik ist nach wie vor fixiert auf die Inzidenz, die Anzahl Hospitalisierungen und einen R-Wert. Die Blickweite reicht nicht weiter als zur eigenen Nasenspitze. Insofern lassen sich die covid-assoziierten Konsequenzen für unsere Generation nur sachte erahnen. Stichwort Antibiotikaresistenz, Stichwort Virusmutation, Stichwort Klima.


Wir sollten lernen, das Leben mehr zu lieben, anstatt in Angst vor dem eigenen Vergehen zu verweilen. Mindset Jugend für immer, weil dies ist alles, was uns bleibt. Und eigentlich ist das auch mehr als genug.


"Ja, krasser Ort, Jugend, da bin ich, da werde ich gewesen sein." (Airen, 2011: I am Airenman. S. 7)


[1]Koronare Herzerkrankung wie Myokardinfarkte, Thrombusembolisationen mit darauffölgenden Schlaganfällen, etc. [2] https://www.swissheart.ch/de/herzkrankheiten-hirnschlag/erkrankungen/koronare-herzkrankheit.html

 
 
 

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