Felix Felicis / summer in berlin
- Mona Dean
- 10. Aug. 2022
- 5 Min. Lesezeit
«Felix Felicis (lat. felix, der Glückliche; felicis, des Glücklichen), auch "flüssiges Glück" genannt, ist ein extrem kompliziert zu brauender, goldfarbener Zaubertrank, der bewirkt, dass einem alles gelingt, was man sich vornimmt — auch wenn manchmal anders als man denkt.» (Harry Potter und der Halbblutprinz; Kapitel 9)
Felix Felicis, goldener Trunk. Womit alles mit Vorsatz vorgenommene vorsätzlich gelingen soll. Ich glaubte daran, ich spürte die Kraft und Zuversicht, ich spürte den goldenen Schein auf uns. Goldene Marke auf der Stirn, Kains Zeichen.
Der goldene Schein, wenn du vor mir stehst, alle anderen um uns herum es endlich verstehen, weil sie es nun mit eigenen Augen sehen. Wenn du am anderen Ende des Clubs stehst und ich dich spüre und mich die Gewissheit einholt, dass sich das nicht ändern wird – Vertrauen. Der goldene Schein, wenn ich um 8 Uhr morgens in den Innenhof laufe, der schallende Bass mir noch im Nacken sitzt – und mich plötzlich die Stille umhüllt. Das goldene Licht der Sonne: der Scheinwerfer auf dem Bühnenplatz, das Rauschen der S-Bahn als Kulissengeräusch, Geräuschkulisse. Wenn alle Puzzleteile so zusammenfallen, dass mir die Tränen in die Augen steigen vor Dankbarkeit für diesen wundervoll kostbaren Moment. Die Situativität des Moments gedehnt, indem er als Spiegel fungiert für die Reichhaltigkeit, die ich bis anhin in meinem Leben erfahren durfte. P e r f e k t. In dem Wissen, dass nichts perfekt ist, Perfektion praktisch Nicht-Existent ist, eine Annäherung, Perfektion so schnell verpufft wie Rauch im Wind – und trotzdem gibt es sie, diese klitzekleinen perfekten Augenblicke. Annäherung an die Unendlichkeit, weil auch diese unsere Vorestellungskraft übersteigt, doch wir manchmal ihre Existenz erahnen können.
“We only need to be one person.
We only need to feel one existence.
We don't have to do everything in order to be everything, because we are already infinite. While we are alive we always contain a future of multifarious possibility.”
(Matt Haig, The Midnight Library, S. 283)
Berlin - wo ich alle Möglichkeiten sehe und spüre und das genügen soll.
Einfach sein. Atme ein, atme aus. Kann das Glück nicht fassen, denn endlich ergibt alles wieder einmal Sinn. Systemerror 0x0. Ein Abendteuer neigt sich dem Ende zu, glaube das retardierende Momente so wie die Katastrophe schon hinter mir gelassen zu haben. Sommer in Berlin, man muss es erlebt haben. Verliebt im Sommer in Berlin, man muss es gefühlt haben. Ein Wissen, das wahrscheinlich wieder jenseits jeglichen verbalen Fassungsvermögens liegt. Der Baum der Entscheidungen liegt vor meinem inneren Auge, genau so wie die Zweifel, die bei jeder erneuten Abzweigung der Äste entstehen. Zweifel, die jeder Entscheidung zugrunde liegen. Zweifel, die mit jeglicher Konfrontation von Möglichkeiten einhergehen.

Ein paar Atemzüge später und wir sind wieder in unserem gewohnten Reich. Die Zeit steht still, unser Atem fliesst - nun endlich ruhig und ebenmässig. Alles ist so sanft und weich, so unfassbar unschuldig mit dir. Stripping down layer by layer, weil es in diesen Augenblicken möglich ist. Gelangen wieder auf den Grund unserer Wesen, zwei alte Freunde treffen sich und nehmen das Spiel erneut auf. Gonna give you my love, when the days go out, gonna give you my all when the lights go out. Cause it seems like its the only moment possible. When all the lights go out, when we both close our eyes and we’re being guided by nothing but pure feeling. Goldener Schatten auf der Hausfassade gegenüber deines Fensters, das Farbenspektrum des Firmaments und der lillane Schimmer der Wolken geben uns einen Anhaltspunkt für das Ende dieses Tages, dieser Tage. Wir raffen uns nochmals auf, tuckern und torkeln kichernd herum, endlos müde aber glücklich und erfüllt. Solange du mich an der Hand nimmst und ich mich an deinen Hals kuscheln kann, ist alles irgendwie machbar. Wir alle hundemüde, aber glücklich und erfüllt, alle ein Eis in der Hand. Es ist Sommer in Berlin und wir sind alle jung, in diesem Moment gibt es keine weitere Verantwortung als das Eis möglichst ohne Kleckern zu verspeisen.

Sonntagmorgen, sanft weckt uns die Morgensonne, die Glocken läuten und wir geniessen noch ein paar Momente der Zweisamkeit, bevor die Anderen kommen. Die Vorfreude mag die grundliegende Müdigkeit zu übertönen, wir steigen hoch aufs Dach und der Blick reicht wieder so weit wie noch nie. Bin dankbar, dass ich die Anderen endlich einweihen kann. Wir sind jung, wir stehen über den Dächern Berlins und die Welt liegt uns zu Füssen, heute ist alles möglich. Golden perlt der Sekt in unseren Gläsern, wenn wir auf uns anstossen. Auf Sommer, auf unsere Zusammenkunft, auf Harmonie, auf die unsichtbar goldenen Fäden, die sich inzwischen unter uns gesponnen haben.
Da stehen wir vor der imposanten Silhouette des ehemaligen Heizwerks und weil heute Felix mit uns ist, gelingt uns ein Wiedersehen in der Eingangshalle. Felix hat bewirkt, was wir uns vorgenommen haben, auch wenn wir es anders gedacht hatten. Wir finden uns wieder im Garten, goldene Tropfen sprühen aus den Wassersprinklern auf unsere naiven Haupte. Sanfter Beat, bekannte Gesichter, Wiedersehen und nichts als ehrliche Freude. Ein Jahr ist vergangen und ich habe neue Plätze gefunden, so viele schöne Menschen getroffen, Orte mit Liebe im Herzen verankert. Ich gucke auf all eure Gesichter wie sich mich golden anleuchten und mein Herz zum Strahlen bringen. Nehme dich an der Hand und plötzlich bin ich es nicht mehr, die alleine unter dem Regen tanzt. Wir schliessen die Augen, unsere Lippen berühren sich und wir verschmelzen - wir alle sind eins in diesem Moment.
Der Moment, immer ist es der verdammte Moment, der schon wieder vorbei ist, sobald man ihn erfassen kann. Weil im Moment den Moment zu fassen ist Kunst – die mir an diesem Wochenende überraschend oft gelingt. Fragilität: weil wir alle wissen, woher wir kommen. Wie viel Trauer und Einsamkeit, Stress und Leiden wir schon erfahren haben. Wie wir von dem kalten, grauen und blassen Leben nur durch ein paar Zeiteinheiten getrennt sind. Aber heute und hier existieren Zeiteinheiten nicht.
Durch euch multipliziert sich meine Glückseligkeit, ihr seid die Festplatten, auf denen ich dieses Gefühl abspeichere. Stillschweigendes Versprechen, dies mit uns mitzutragen. Weil geteiltes Glück doppeltes Glück ist. Und weil durch diese Übereinkunft das Gefühl einen über den Moment hinausragende Beständigkeit erfährt.
Und genau so dürfen wir uns wiederfinden vor dem einzigartigen blauen Strobo, ich stehe oben auf dem Podest und du hinter mir. Ich blicke auf die Masse, blicke auf euch, mein Blick kehrt sich um und richtet sich nach innen, deine Hände an meiner Hüfte, nirgends anders gehöre ich gerade hin. Keine Zeiteinheiten.
Schon ist ein neuer Tag angebrochen, wir geniessen noch die letzten kollektiven Momente der Verankerungslosigkeit, geniessen die rare Berliner Sommersonne und ich nehme Abschied. Langsame Transition zurück in die Gewissheit, dass ein neuer Tag angebrochen, Zeiteinheiten wieder existieren. Weil Techno kollektiver Hedonismus ist, der mit eigenen Inhalten gefüllt werden muss und genau darum bemühe ich mit diesen Worten.
Nicht nur ein neuer Tag, sondern auch ein neuer Abschnitt ist angebrochen. Will hier einen Schlussstrich ziehen, denn: «Die Dauer des anhaltenden Glücks hängt von der getrunkenen Menge ab. (…) Überdosierung jedoch oder Fehler bei der komplizierten Herstellung können fatale Auswirkungen auf den Trinkenden haben, denn der Trank wirkt dann wie ein Gift und er führt zu Leichtsinn, Rücksichtslosigkeit und gefährlicher Selbstüberschätzung.» Und Rücksichtslosigkeit hat nichts zu suchen in diesem goldenen Wochenende, genau so wenig wie der Montag noch zum Wochenende gehört. Dies soll ein Text sein entkoppelt von Dichotomien, Ambivalenzen und dem bitteren Nachgeschmack, ihr wisst was ich meine. Es geht dabei nicht um deren Verleugnung jedoch um die bewusste Entscheidung, den guten Momenten auf dem Bühnenplatz den Vorrang einzuräumen. Ein Schlussstrich ziehen zwischen uns, ohne die gemeinsamen Momente zu dementieren. Ich suche den goldenen Rahmen, um diese Momente ehrlich zu erhalten und versuche hiermit den Schmerz loszulassen, der mich beim Gedanken an deren Vergänglichkeit überkommt.
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