Fern, näher: Eine Weihnachtsgeschichte
- Mona Dean
- 24. Dez. 2022
- 5 Min. Lesezeit
«Ich komme aus der Ewigkeit Ich komme aus der Ewigkeit. Frühling war’s, dann heiße Sommerzeit, der Herbst bracht’ Frucht und Blätterfall und wilder Stürme Widerhall. Nun ist der kalte Winternebel da, verhüllt in eins, was fern und nah; mich deckt das Schneetuch der Vergessenheit, so fahr ich wieder in die Ewigkeit.»
Hans Thoma (1839-1924)
Winterlicht fällt durch die Jalousien, unschuldig auf sein verschlafenes Gemüt. Mentaler Zustand zwischen Hier und Schlaf, zwischen Jetzt und Traum. Ein Limbus, keine Vorhölle, sein Limbus, seine Fegefeuer an Erinnerungen, sein Gedankenschloss an Erfahrungen. Er schwebt herum, kann sich drehen, steht aufm Kopf und erfährt endlich, wie es sich anfühlt, fliegen zu können. Er wirbelt ziellos herum, jegliche Gefühlsregung wird in einem anderen Befinden, einem anderen Sein zurückgelassen. Da rollt plötzlich eine rotschwarze Dampflocke auf ihn zu und hupt zweimal, grauer Dampf steigt in den Raum, verteilt sich überall: nach links, rechts, hinten und vorne - weil es hier weder ein Oben noch Unten gibt. Er begibt sich zu einer der geöffneten schwarz glänzenden Türen der Lock und beim Einstieg fällt ihm auf: Die Bahnschienen werden von einer Tonleiter dargestellt. Die Tonleiter schwingt ihre Bahnen, die Bahnen die Dampflocke leiten, indem die Lock flott von Note zu Note springt. Er steigt ein und lässt sich auf einen von rotem Samt gezierten Sitz fallen. Vor ihm steht ein Tischlein mit goldener Versiegelung, welches ein festgeschraubtes Stehlicht ziert. Der ausgefranste Lampenschirm zittert, als sie sich in Bewegung setzen. Er lehnt sich zurück, niemand sonst scheint da zu sein. Irgendeine Frage will er noch klären, ein Anliegen auf der Zunge ihm liegt, doch noch scheint der passende Augenblick nicht eingetroffen sein.
Sein Blick fällt aus dem Fenster und er merkt, wie die anfänglich alles umfassende weisse Masse sich zu formen scheint. Ihre Fahrt wird geziert von hochragenden Bergen, die Bergspitzen von einem leichten Schneehäubchen versiegelt werden. Die Luft so klar und transparent wie Eis. Die Bergkette unterteilt der Sonne Strahlen in ein sonderbares Muster, welches ihre Lock in ihrem glanzvollsten Licht erstrahlen lässt. Die Bäume, die den Hang säumen, stehen dicht aneinandergedrängt, um sich in ihrer winterlichen Nacktheit Wärme zu spenden. Fast ein bisschen verloren scheinen sie nun, macht sich doch der Trugschluss ihrer Völle ohne das Kleid ihrer grünen satten Blätter unleugenbar bemerkbar.
Er blickt runter auf das Tischlein: darauf befindet sich ein Tablar, auf welchem ein Teller mit goldener Glocke überdeckt steht. Verwundert legt er die Glocke zur Seite und ihm läuft das Wasser im Mund zusammen beim Anblick der noch dampfenden Ofenkartoffeln und dem saftigen Braten. Sachte lehnt er sich zurück, geniesst das Mahl und blickt weiter aus dem Fenster. Heute ist er ein Zuschauer, mehr nicht. Nah, ferner. Schon küssen die letzten Sonnenstrahlen die Bergspitzen. Punktuell. Nur einzelnen auserkorenen Flecken gelten der Strahlenaufmerksamkeit von Frau Sonne und er fragt sich: Gibt es hier ein Muster? Was möchte die Sonne mir mit den letzten Orten des Lichts damit offenbaren? Die letzte Phase des Tages geht zu Ende, ein Ende eingebettet in die weibliche Schönheit der Schöpfung. Die letzten Sonnenstrahlen verschwinden hinter den Bergen und die Luft steht still, jeder Atemzug ist nun doppelt so laut.
Beim nächsten Violinschlüssel wird aprubt angehalten und die sie die ganze Zeit antreibende Musik erstillt aufs eine Mal. Es wird Zeit, das warme Innere des Zugs zu verlassen, soviel scheint ihm klar zu sein. Er knöpft seinen Mantel bis auf den letzten Knopf zu und kippt den Kragen nach oben. Dann erhebt er sich und steigt tapsig aus der Lock, merkt beim ersten Schritt, dass er bis zu den Knien im Schnee feststeckt; er muss sich anstrengen, nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Mittlerweile ist es komplett eingedunkelt, er steht auf dem Hang eines Hügels und erblickt in etwa 200 Meter Entfernung ein kleines Dorf. Einladend steigt dunkler Qualm aus den Schornsteinen, glitzernde Weihnachtsbeleuchtung lockt ihn an genauso wie das warme Licht aus der Hütten Stuben. Als er seinen Weg beginnt, lässt sich sanft etwas kaltes nasses auf seiner Nasenspitze nieder. Stutzig bleibt er stehen, blickt hoch und ach siehe an – Schnee, nah, ferner.
Alles gepresst in Vakuum, jedes Geräusch sachte gedämpft, er in Watte gepackt. Die Fäden der herunterrieselnden Flocken bilden seine Matrix, in welcher er sich sicher zurechtfindet. Schnell erreicht er den Anfang des Dorfes, wo der Weg eben wird, weil sich scheinbar jemand die Mühe gemacht hat, den liegengebliebenen Schnee zur Seite zu schaufeln. Noch sieht er weit und breit keinen anderen Menschen, jedoch verrät ihm das Licht hinter den Fenstern etwas über die Lebendigkeit, ja die Wohligkeit dieses Ortes. Er läuft von Häuschen zu Häuschen und wagt es, zaghafte Blicke durch die Fensterscheiben zu werfen. Glockenläuten säumt seinen Gang, er weiss, nun ists nicht mehr lang. Er muss sich entscheiden, die Rolle des Gastes einzunehmen, denn langsam sind seine Finger und Zehen, ja selbst seine Nasenspitze taub. Er dreht sich zaghaft nochmals um die eigene Schulter, er meint die Stosslichter der Dampflock in der Ferne hinter Nebenschwaden auf dem Hügel ausmachen zu können - aber da war ja noch was, da war doch noch diese eine Frage, deren Beantwortung ihm heute besonders am Herzen lag.
Am Ende der Gasse steht ein stattliches Haus auf zwei Etagen. Er bewegt sich langsam darauf zu, von einem bestimmten Urgefühl geleitet, welches ihm sachte durch die Schneeflocken zuhaucht: Verweile hier. Vor dem Fenster wirf er auch hier einen schüchternen Blick in das Innere des Hauses. Er erblickt einen Familienvater in weissblau gestreiftem Hemd und schwarzem Haar, eine Mutter mit rotem Lippenstift im Gesicht, einen lockeren dunkelblauen Wickelrock tragend. Und ach siehe an, ihr gemeinsames Werk: ein Kindchen mit kurzen braunen Löckchen und strahlend grünen Augen. Er bleibt stehen und blickt hinein, sein Herz lechzt. Nah, ferner. Die Familie lacht, das Kindchen krabbelt auf den Knien rum und scheint sich des Geschenkpapiers mehr zu erfreuen als der Geschenke, indem es das Papier von Papa zu Mama unermüdlich hin- und hertransportiert. Am Baume brennen Kerzen lichterloh und er meint, den Geschmack des Bienenwachses in der Nase zu vernehmen. Schon überwindet er sich, fasst sich ein Herz und klopft an die imposante Holztür. Vielleicht kommt er heute aus der Ewigkeit. Vielleicht hat er sich entschieden, heute diesen einen Abend mit Ihnen zu verbringen.
Die Türe öffnet sich nicht. Niemand scheint sein Klopfen zu hören. Irgendwann gibt er auf. Zügig stapft er den Weg zurück durch den Schnee, er kann seinen eigenen Fussspuren folgen, denn das Dorf der Vergessenheit scheint weit und breit leer. Die Locke steht treu da, summt vor sich hin: «I'm coming up only to hold you under. And coming up only to show you're wrong. And to know you is hard, we wonder. To know you all wrong, we were…» Und so steigt er wieder ein, wirft noch einen letzten Blick zurück und erstarrt. Das Dorf ist verschwunden, ihm blickt eine Reihe dunkler verschneiter Grabsteine entgegen. Die Kälte steckt ihm noch in den Knochen, hüllt ihn komplett ein, Dämpfung. Dämpfung jeglicher Regungen, heute ist er ein stiller Zuschauer. Das nächste Lied kommt und sie heben ab durch die verschneite Mondlandschaft, zurück in Richtung Ewigkeit. Und eigentlich wollte er doch nur fragen: «Am I allowed to fall in love with you?» Far, nearer.

«Vereinsamt
Die Krähen schrein
und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
bald wird es schnein -
wohl dem, der jetzt noch - Heimat hat!
Nun stehst du starr,
schaust rückwärts, ach! wie lange schon!
Was bist du Narr
vor Winters in die Welt entflohn?
Die Welt - ein Tor
zu tausend Wüsten stumm und kalt!
Wer das verlor,
was du verlorst, macht nirgends halt.
Nun stehst du bleich,
zur Winter-Wanderschaft verflucht,
dem Rauche gleich,
der stets nach kältern Himmeln sucht.
Flieg, Vogel, schnarr
dein Lied im Wüstenvogel-Ton! -
Versteck, du Narr,
dein blutend Herz in Eis und Hohn!
Die Krähen schrein
und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
bald wird es schnein,
weh dem, der keine Heimat hat!»
Friedrich Nietzsche (1844-1900)
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