Liebesbrief an Strobo
- Mona Dean
- 13. Mai 2022
- 4 Min. Lesezeit
Nicht Liebesbrief an Bass wie Rosa Feodora, nein. Dies soll ein Liebesbrief an das Leben, die innerste, nie vergängliche Jugend, an Berlin und Techno, ans Berghain und letztlich an Airen als Katalysator dieser aller Aspekte – sein.
«Irgendwas lockt mich nach draussen. Es ist diese Geilheit auf das Retrofeeling, das mich schon die ganze Zeit flasht. Seit einer Woche befinde ich mich auf der Suche nach diesem Feeling, den Geruch wieder in der Nase, die Antennen auf Empfang, (…) jede Empfindung in einen wattigen Schleier getaucht. Feiern. Immer das Abenteuerfeeling unter der Haut, der Reiz, der Kitzel des Neuen. Es gibt heute Leute, die das genauso empfinden. Uns trennen drei, vier Jahre und ein paar Entscheidungen – und manchmal gar nichts. Mal rein realistisch, es wird mich wahrscheinlich einen riesen Haufen Kraft und Überwindung kosten, am Montag aufzustehen und alles gebacken zu kriegen. Aber fuck it, ich bin jung, es muss gehen, das haben schon andere geschafft. (…) Denk dir eine Kamera über die Schulter und sei der verdammte Hero of the night. (…) Ich sitze in der U-Bahn, zünde ein Streichholz an und mein Leben ändert sich. Ich sitze in der U-Bahn, jemand sitzt neben mir, mein Leben ändert sich. Jeder Moment birgt diese Macht, deswegen sind wir die Allmächtigen. (…) Ich sollte mehr Drogen nehmen, noch ein zwei Jahre ohne Plan im Hier und Jetzt verweilten, bevor es ganz vorbei ist. Schon kenne ich die andere Seite, die tröge Vernunft, das Planen und Berechnen, die Angst vor Altern, Krebs, Tod. Nichts hat sich in meinem Leben so gut angefühlt wie Vergessen, Rausch, Sein. Hier und Jetzt heisst: Scheiss auf Morgen, auf Hautbild und Montag, wir haben es alle verlernt. In was bin ich da geraten? Es gab eine Zeit in der war die Welt bunt, nicht nur von aussen. Ein Job ist eine Prüfung, ein weiterer Knast, ein weiteres Bild in meinem Album (…).» (Airen: Strobo. SuKuLtuR, Berlin 2009)
Weiss nicht, was das jetzt wieder soll, eigentlich sollte ich mich dringend meinem Berg an Vorlesungen widmen, die es nachzuarbeiten gilt. Und trotzdem sitz ich hier, nachdem ich letzte Nacht zum (unübertrieben) bestimmt 30. Mal «Strobo» von Airen gehört hab; leichtes Hintergrundgeräusch zu meiner Insomnie. Besorgt mir wirre Träume, welche insgeheim doch gewünscht sind. Klar, wir leben in einer Feiergesellschaft, Eskapismus an erster Stelle und ja, Techno ist halt einfach geil. Und trotzdem ist da mehr, das mich dahinter steckt und auch mehr, was mich mit diesem Buch verbindet.
Dies soll ein Liebensbrief an Airen und «Strobo» werden. Wieso Liebesbrief? Weil sein Buch, obwohl nicht explizit thematisiert, davon zeugt, dass Liebe viel mehr als objektgebunden ist. Verliebtsein in das Leben heisst Dasein im Moment, einfach nur Sein, Leben im Exzess des Gefühls. Ein Buch, das ein Lebensgefühl zu konservieren vermag, welches ich bisher nur erahnen konnte. Ein primitives Bedürfnis, welches in uns allen ruht. Wenn wir ehrlich zu uns sein können. Wenn wir die bunte Welt in uns erschliessen können. Schon beim ersten Lesedurchgang vor über zwei Jahren (welcher innert Stunden erfolgte), wurde etwas tief in mir drinnen Ruhendes schlummerndes sanft wachgerüttelt. Eine Jugendvorstellung von der Zukunft, eine Ahnung über das, was möglich ist. Über das Schicksal, welches jedem Moment inhärent ist, über die Tatsache, dass ein Moment, eine Interaktion, eine Begegnung, ein Abend das Leben nachhaltig ändern kann (nachhaltig?).
In tiefsten Coronazeiten las ich «Strobo» wieder und wieder, um mich irgendwie von dem Gefühl von Freiheit zu nähren und mir selbst einzureden, dass meine Airenzeit auch noch kommen wird. Und auch wenn ich nun doch ähnliche Momente erleben durfte, wird «Strobo» immer Retro bleiben, weil es eine Präcovid-Zeit festhaltet, in der Techno für noch mehr als nur Abriss stand und die Clubkultur noch nicht ganz so kommerziell ausgelegt war (ein Hype, TikTok sei Dank).
Also: Meine Airenzeit? Das Gefühl, ein kleiner Held in der eigenen Lebensgeschichte zu sein, die subjektive Lebensgeschichte mit Erfahrung voranzutreiben, nachhaltige Erinnerungen zu schaffen, um irgendwann daran zu zehren. Die Frage, was denn nun echt ist, was denn nur Schein und Sein. Ist es reine hedonistische Sucht nach Exzess, das eigene kleine Drogenproblem, die menschliche Unersättlichkeit? Oder doch eher das Bedürfnis nach wahrer, ehrlicher Begegnung, nach Transzendenz und nach Kontingenz? Möglichkeit und gleichzeitige Nichtnotwendigkeit. Diese tiefgründige Ambivalenz, die allem beischwingt und sich nur von dem Bass überwinden lässt. Und trotzdem: Für mich reihen sich die Abende nicht wahllos aneinander, sondern scheinen mich jedes Mal ein Stück näher zu mir zu bringen. Um mich dann in meinem Unialltag, umgeben von all den 1er-Abistundenten wieder zu entfremden. Wochenende für Wochenende darf ich meine Flügel entfalten, über die Bühne flattern und Feenstaub verteilen – um mich dann Montag wieder in das viel zu kleine Alltagsgewand zu pressen.
Ich steig in die Ringbahn ein, Train, und es ist jedes Mal erneut dasselbe überwältigende Gefühl. «Strobo» ist Berlin, die Weite, die Spontanität, dieses utopische Gefühl. Ein Konterpunkt zur kapitalistischen Leistungsgesellschaft und Arbeitswelt. Berlin ist der Fluss des Lebens, Mythos des Sysiphos, der einen mitreissen kann, wenn man es denn nur zulässt. Der Strom, der schon so manchen Einen unwiederbringlich verschluckt hat. Berlin ist Ausbruch des Panthers aus seinem Käfig. Berlin lebt von seiner Geschichte, welche, wenn die Antennen auf Empfang gestellt sind, an jeder Ecke zu erwarten ist. Berlin ist eine Synthese, eine Fusion aus Gestern, Heute, Morgen, weil eben Morgen keine Rolle spielt. Folgende Unterteilung wird vorgeschlagen: Lebensessenz, Berlin, Berghain, Airen, Gefühl. In dieser Reihenfolge.
Es fasziniert mich, wie Jemand derart intelligentes und selbstreflektiertes diese ganze Subwelt beschreibt. Dieser krass analytische Blick, dieses dritte Auge, mit dem ich mich sehr gut identifizieren kann. Und wenn ich da durch die Clubnächte strolle, hoffe ich doch insgeheim immer noch darauf, meinen persönlichen Airen tanzend unter dem Polarstern des Exzess zu finden und mit ihm dieses Konsens zu haben.
Auf die ewige Jugend, die in uns allen schlummert und die uns niemand wegnehmen kann!

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