Sekundenschlaf
- Mona Dean
- 9. Nov. 2022
- 3 Min. Lesezeit
Ruhe. Es war und ist immer noch die Ruhe. Ein innerer Ruhepol, wenn mich der Alltagsdruck in einen Sekundenschlaf fallen lässt und ich mich plötzlich wieder in deinen vier Wänden wiederfinde. Der Flur ist geziert von Unmengen an Türen, nimmt seine Windungen und schlängelt sich Ecke um Ecke um das Gebäude. Es riecht nach einer Mischung aus Sand, feuchten Handtüchern und gekochtem Reis in den Fluren. Zaghaft tapsen meine nackten Füsse über den schmuddeligen Fussboden, ich biege nach rechts ab und gehe am Ende des Flurs aufs Mädchenklo. Ein Blick in den Spiegel dient zur Rückversicherung, dass das alles echt ist, dass das hier gerade mein Leben ist und ich all diese Momente und Emotionen am eigenen Leib erfahre. Ein kurzer Moment für mich, bringt mich zurück ins Bett zu dir. So ruhig hier, dass ich höre, wie deine langen schwarz geschwungenen Wimpern sich bei jedem Blinzeln sanft berühren. Schon im ersten Moment habe ich eine Stille von besonderem Charakter in deinem Zimmer erfahren. Eine Stille, die bis auf die Knochen dringt, ohne unerträglich zu werden. Eine Stille, wenn wir uns in die Augen blicken, die jede Stimme des inneren Zweifels in mir zu übertönen vermag. Im Flur zeichnen sich goldene Schatten der Jalousien aus der Gemeinschaftsküche ab. Ich lege mich in der Küche auf die rote Sofabank und warte, bis wir gemeinsam aufs Dach klettern. Ein Teil von mir bleibt auf alle Zeiten gefangen in der Friedlichkeit deiner vier Wände, begleitet vom immerwährenden Sommer. Sekundenschlaf, wache auf, es ist November und Regentropfen bilden die Hintergrundgeräusche zu meinen Bemühungen, ein integrativ funktionierender Teil dieser Gesellschaft zu sein. Zeitgeschehen auszublenden, Leistung zu erbringen, kritisches Denken auszuschalten und zu funktionieren. Und schon wieder falle ich sanft in eine andere Zeit. Sekundenschlaf, wird zu meinem Winterschlaf.
Er nimmt sie an der Hand und rennt los durch die mit rostrotem Laub gezierte Allee. Die restlich verbliebenden Blätter der Bäume wiegen sanft hin und her im kühlen Herbstwind, die kalte Luft stich frisch in der Nase und vor dem Mund der beiden rennenden Gestalten bildet sich Rauch mit jedem Ausatmen. Die Leute stutzen und halten kurz inne, wenn sie von den beiden torkelnden Gestalten passiert werden. Dann wenden sie sich wieder ihren Tätigkeiten zu, eine ältere Dame dreht den Kopf ihrer Freundin zu und die beiden fahren fort in ihrem Kartenspiel. Der jüngere Mann vom Cornershop drückt seine Kippe aus und geht wieder ins Geschäft, um den nächsten Kunden zu bedienen. Eine junge Frau beginnt wieder energisch auf ihren Chihuaha einzureden und diesem wohl relativ vergeblich den Unterschied zwischen einer Strasse und einer Allee zu erklären, ein Mann in Anzug nimmt sein Handy hervor und montiert die Earpods in seine Ohren, um trotz Feierabend nochmals im Geschäft anzurufen. Ich lasse mein Buch in meinem Schoss verweilen und gucke dem Jungen und dem Mädchen nach. Das Mädchen trägt einen viel zu grossen Mantel aus Wildleder, der ihr bis zu den Knöcheln reicht. Dazu trägt sie ausgelatschte Stiffletten, ihr Haupt ziert eine goldene Papierkrone. Der Junge trägt eine abgewetzte schwarze Lederjacke, die auch ihm um einige Nummern zu gross ist. Dazu eine schwarze Stoffhose und beige Lederschuhe und mit Fell gefütterte Handschuhe. Mit seinen Handschuhen hält er das Mädchen an der Hand, wirbelt sie herum durch das Laub, hebt sie hoch in seinen Armen. So lange und so weit sind die beiden gerannt, um sich hier zu treffen. Divergierende Zeitalter, Herkunftsorte, familiäre Ansprüche, Zukunftsvorstellungen, Ideale und Utopien, dass diese Welt noch zu retten sei – alles haben sie hinter sich gelassen, um nun endlich zueinander zu gelangen. Es fiel nicht schwer, dies alles zurückzulassen, weil der Preis dafür absehbar war und sich gelohnt hat.
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